Trauer ist der Preis der Liebe.
- jovankaruoss
- 1. März 2023
- 3 Min. Lesezeit

Das Leben ist ein ständiges Abschiednehmen.
Wir kommen auf die Welt, um zu sterben. Diese Tatsache versuchen wir alle so gut wie möglich zu ignorieren. Wir wollen nicht mit dem Tod konfrontiert werden. Wir haben Angst vor dem Tod, weil er uns unmittelbar an unsere begrenzte Zeit hier auf Erden erinnert.
Ich war 22 Jahre alt, als der Tod in mein Leben trat und mir meinen Vater genommen hat. Er ist nicht aus dem Nichts gekommen. Er hat sich schon einige Jahre davor bei uns vorgestellt.

Als ich 16 Jahre alt war, verschaffte er sich als Krebs getarnt Zugang zu unserem Leben. Wir mochten ihn nicht und haben ihn rausgeschnitten und bestrahlt.
Die Operation und die anschliessende Bestrahlung haben ihn vertrieben.

Glaubten wir. Doch sechs Jahre später trat er erneut in unser Leben. Diesmal haben wir ihn zu spät bemerkt. Er hat sich bereits genüsslich im Körper unseres Vaters breit gemacht. Rausschneiden und Bestrahlen waren keine Option mehr. Wir konnten ihn nicht mehr aufhalten.
In einer Winternacht Anfang März ist er gekommen und hat unseren Vater zu sich geholt.

Fortan konnte ich ihn nicht mehr ignorieren. Zu allem Übel hat er auch noch seine Freundin Trauer mitgebracht.

In den ersten Wochen nach dem Tod meines Vaters hat sich Trauer noch vornehm zurückgehalten. Doch je mehr Zeit verstrich, desto aufdringlicher wurde sie. Ich mochte sie nicht, ich wollte ihr entkommen. Doch sie ging einfach nicht fort. Ich hatte Angst vor ihr. Ich hatte Angst, dass sie mich mit ihrem Gewicht erdrücken würde.
Dass ich keine Luft mehr bekommen würde.

Um mich zu schützen, habe ich eine Glasglocke über mich gezogen.

Fortan konnte ich Trauer aus den Augenwinkeln beobachten und ihre Worte drangen nur noch gedämpft zu mir vor. Ich verbrachte einen wesentlichen Teil meines jungen Erwachsenenlebens unter dieser Glocke.
Ich habe die Uni besucht, habe Prüfungen geschrieben, bin auf Partys gegangen. Das Leben unter der Glocke war angenehm unaufgeregt, gleichmässig, eintönig. Mein Gefühlsleben war keinen grossartigen Schwankungen mehr ausgesetzt. Nicht nur Trauer blieb aussen vor, sondern auch alle anderen Gefühle wie Freude, Angst, Wut, Ekel, Überraschung und Verachtung.
Es fühlte sich beinahe so an, als hätte der Tod sich zu mir unter die Glocke geschlichen.

Trauer kam immer wieder vorbei und hat an das Glas geklopft. Ich habe sie ignoriert. Irgendwann fing sie an, mir immer neue Bilder und Erinnerungen von meinem Vater zu zeigen.

Auch das habe ich ignoriert.
Doch Trauer war hartnäckig. Irgendwann ist sie dazu übergegangen, die Bilder mit den Erinnerungen an das Glas zu kleben.
Mehr und mehr hat Trauer mir die Sicht auf die Aussenwelt genommen. Sie war wirklich sehr hartnäckig. Ich konnte ihr nicht mehr länger unter der Glasglocke entfliehen. In einem ruhigen Moment habe ich mir die Bilder angeschaut, die sie auf das Glas geklebt hat.
Und ich musste zugeben: Trauer hatte durchaus Talent als Kuratorin.

Es ist ihr gelungen, eine Collage mit den schönsten Erinnerungen an meinen Vater an mein Glas zu kleben. Beim Anblick der Bilder wurde ich traurig. Zugleich zauberten mir gewisse Erinnerungen auch ein Lächeln ins Gesicht. Und zu dem Lächeln gesellte sich Dankbarkeit für die schönen Stunden, die in meiner Erinnerung für immer weiterleben.

Trauer war vielleicht doch nicht so garstig wie ich dachte.
Ich begann, mich mit ihr zu unterhalten und spürte, wie traurig sie war. Erst als ich die Trauer in mein Leben liess, erkannte ich, wie mitfühlend und sanft sie ist. Sie wollte mir helfen, den Tod meines Vaters zu verarbeiten. Sie wollte mir helfen, zu mir selbst zu kommen und zu erkennen, was mir im Leben wirklich wichtig ist.
Nur wenn wir den Mut haben, die Trauer als Teil unseres Lebens zuzulassen, können wir vorankommen und wachsen.
Letztlich ist Trauer eine transformative Erfahrung, eine Erfahrung, die die Kraft hat uns zu verändern, uns zu helfen, die Welt auf eine neue Weise zu sehen, und unsere Verbindung zu uns selbst und anderen zu vertiefen. Michael Hebb, Autor von "Let's Talk about Death (over Dinner)"
In Erinnerung an unseren Vater, der am 1. März 2003 gestorben ist.
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