Meine rosarote Brille hat einen Sprung
- jovankaruoss
- 27. Mai 2022
- 3 Min. Lesezeit
Liebe ist kompliziert. Eben noch habe ich einen Liebesbrief an mein Leben in Berkeley verfasst, und nun hat meine rosarote Brille einen Sprung. Das Massaker vom Dienstag in einer texanischen Schule hat mich von meiner Wolke runtergerissen.
Erste Risse
Erste Risse hat meine Brille letzte Woche bei einem Treffen mit ehemaligen Hackermoms gekriegt. Eine der Hackermoms wohnt seit 14 Jahren in den USA, ist aber ursprünglich aus Deutschland und Südafrika. Nun kehrt sie nach Deutschland zurück. Ich war neugierig, wieso sie Berkeley verlassen und zurück nach Berlin ziehen will. Ihre Gründe waren das Klima, die politische Stimmung im Land und die regelmässigen Schiessereien.
Brände und Erdbeben
“Vielleicht will uns dieser Flecken Erde einfach sagen, dass wir nicht hier sein sollten”, meinte sie zum Klima. Die Brände in den letzten Jahren waren schlimm. Gepaart mit Corona, heissem Wetter und präventiven Stromabschaltungen in Berkeley gab es im letzten Herbst sehr schwierige Wochen für die Einwohner. Teilweise wurde der Strom für mehrere Tage abgeschalten. Alle Lebensmittel im Kühlschrank und im Gefrierer mussten weggeworfen werden. Ohne Strom auch kein Herd, kein warmes Essen. Ohne Kühlschrank keine Milch fürs Müsli. Vorbereitungstraining für “the Big One”?
Politische Stimmung
In Berkeley und Kalifornien ist die absolute Mehrheit froh, dass die Demokraten zurück an der Macht sind. Aber die Angst ist gross, dass in zwei Jahren die Republikaner mit Trump zurück sind. Als Tochter einer schwarzen Südafrikanerin macht meiner Hackermomkollegin vor allem auch der Aufstieg der White Supremacists Angst. Die politische Stimmung im Land ist für Nicht-Weisse und andere Minoritäten beängstigend. Als weisse, heterosexuelle Frau geniesse ich viele Privilegien, denen ich mir selten bewusst bin. Selbst im liberalen San Francisco sind Hassverbrechen gegen asiatische Amerikaner um 567% gestiegen. Dieser Anstieg steht klar im Zusammenhang mit der Hetze, die der ehemalige Präsident gegen China am Anfang der Corona Pandemie geschürt hat.
Schiessereien
Vor zwei Wochen wurden in einem Supermarkt zehn Menschen erschossen. Alle waren “African-Americans”. Vor drei Wochen eröffnete ein Mann das Feuer in einer Kirche in Südkalifornien. Vier Kirchgänger wurden verletzt, einer ist gestorben. Alle Opfer waren “Asian-Americans”. Und nun das Schulmassaker in Texas. Die Schule befindet sich in einem Bezirk, in welchem 90% der Einwohner lateinamerikanische Wurzeln haben. “Aussergewöhnlich” ist hier, dass der Mörder selbst lateinamerikanische Wurzeln hat. Das Risiko, dass ich als weisse heterosexuelle Frau Waffengewalt erlebe, ist um mehr als die Hälfte kleiner als wenn ich eine schwarze Frau wäre.
Plötzlich froh um den Zaun bei der Schule
Ich war am Dienstag den ganzen Tag über beschäftigt und habe keine Nachrichten verfolgt. Als ich am Abend Nelio von der Preschool abgeholt habe, hat mich Johannes gefragt, ob ich das mit Texas gelesen hätte. “Texas, nein. Was ist los da?” “Es gab eine Schiesserei in einer Grundschule”. Klumpen im Hals und Angst. Angst um Alija und Naim. Was ist, wenn hier ein Verrückter in die Schule eindringt? Die Schule von Alija und Naim ist gesichert mit einem hohen Zaun. Die Tore werden nur beim Eintreffen und Verlassen der Schüler geöffnet. Die Polizei ist ums Eck, es würde wohl keine 2 Minuten dauern, bis die Polizei vor Ort wäre. Und doch, Verrückte finden immer einen Weg, oder?
Eine Waffe mit 18, aber kein Bier
Am Abend habe ich weitere Berichte gelesen. Der Täter hat die Tatwaffe kurz nach seinem 18. Geburtstag gekauft. Als mir bewusst wurde, dass man in den USA ohne Probleme mit 18 eine Waffe kaufen kann, aber kein Bier, ist mir meine rosarote Brille von der Nase gerutscht. Der Besitz einer Waffe ist in der Verfassung garantiert. Was für ein Land denkt, dass es seinen Bürgern den Besitz von Waffen verfassungsmässig garantieren muss? Aber Bier unter 21 Jahren verbietet?
Sex mit 16, aber bald keine Abtreibung mehr?
Anfang Mai ist durchgesickert, dass der Oberste Gerichtshof ein Urteil aus dem Jahr 1973 aufheben möchte, welches den verfassungsmässigen Schutz der Abtreibungsrechte auf Bundesebene garantiert. Sollte dieses Urteil tatsächlich aufgehoben werden, würde wohl in über der Hälfte der US Bundesstaaten Abtreibungen verboten. In einigen Staaten würden Mitmenschen sogar aufgefordert, mögliche Schwangerschaftsabbrüche zu melden. Weil Abtreibung ist Mord, und den gilt es zu melden. Das Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit der Frauen wird damit untergraben.
Es ist wohl ganz gut, dass meine rosarote Brille nun einen Sprung hat. Niemand ist perfekt. Auch kein Land.
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