In Zeiten wie diesen
- jovankaruoss
- 2. März 2022
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Okt. 2023

In Zeiten wie diesen finde ich es schwierig, die richtige Balance zu finden. Wie viel Weltpolitik verträgt der Frühstückstisch? Wie viel Weltpolitik können wir unseren Kindern zumuten? Wie erklärt man Kindern die momentane Lage in der Ukraine? Um was geht es eigentlich?
Was momentan in der Ukraine passiert, lässt die wenigsten unbeeindruckt. Die Ukraine war in den letzten Tagen wohl in vielen Familien ein Thema am Esstisch. Die Situation beschäftigt auch uns. Alija und Naim spüren, dass grad etwas Böses in der Welt passiert. Naim liebt es, lustige Sprüche und Verunglimpfungen von Putins Namen (Mister Pudding) zu machen. Johannes und ich haben momentan kein Verständnis und keine Nerven für diese Wortspiele. Zu ernst ist die Lage.
Alija macht sich Sorgen um unsere Familie und ihre Freunde in Österreich und der Schweiz. Die Tatsache, dass Lustenau, wo ihre Tante wohnt, genau so weit weg von Wien wie die Ukraine ist, wirkt nicht beruhigend auf sie. Sie macht sich auch Sorgen um uns hier. Tatsächlich ist die Westküste näher an Russland als die Ostküste. Allerdings glaube ich nicht, dass Putin einen militärischen Angriff auf die USA wagen würde.
Was uns zur eingangs gestellten Frage zurück führt. Um was geht es Putin eigentlich in der Ukraine? Johannes hat versucht, Alija diese Frage so kindgerecht als möglich zu beantworten. Er hat Alija die Weltkarte gezeigt und ihr erklärt, dass sich im letzten Jahrhundert östlich und westlich von Österreich zwei sehr verschiedene Ansätze herausgebildet haben wie Menschen zusammenleben sollen. Des Weiteren hat er ihr die Krim gezeigt und erklärt, dass Putin gerne Meerzugang möchte. Dass seine eigenen Häfen halt nicht so günstig gelegen sind und im Winter auch immer mal wieder zufrieren. Und dass er eben noch gerne ein bisschen Land hätte, damit er “seinen” Hafen auf der Krim erreichen kann…
Das Thema ist vielschichtig. Und bringt mich zum Nachdenken. 1981 bin ich in eine Welt geboren worden, in welcher der Schatten des zweiten Weltkriegs noch zu spüren war. Der eiserne Vorhang war noch gezogen und als Kind wurde mir eine diffuse Angst vor den Russen vermittelt. Die Ereignisse 1989 habe ich nicht wirklich wahrgenommen. Damals war ich so alt wie Naim jetzt und vermutlich grad noch ein wenig zu jung, um die Tragweite dieser Entwicklungen zu verstehen.
Es folgten weitere Kriege. Beim Irakkrieg war ich so alt wie Alija jetzt. Ich weiss noch genau, wie ich damals mit meinen Eltern um halb Acht die Tagesschau geschaut habe. Ich weiss sogar bis heute das Datum des Ultimatums, welches den Irakern gestellt wurde. Ich hatte Angst. Der Krieg war zwar weit weg von Europa und allen Menschen, die ich kannte. Aber Angst interessiert sich nicht für Fakten.
Kurz darauf spürte ich die ersten Auswirkungen des Jugoslawienkriegs in der Schule. Neue Schüler kamen in unsere Klasse. Schüler, die kein Deutsch konnten. Das damalige Schulsystem hat diese Schüler allein gelassen. Es gab zwar eine Deutschlehrerin für diese Schüler. Aber ansonsten gab es keine spezielle Unterstützung. Die Lehrer mussten diese Schüler “mitziehen”. Zwei Jahre lang durften/mussten diese Schüler die Klasse besuchen, für die sie altersgemäss bestimmt waren. Ich erinnere mich an einen Schüler in meiner Klasse, der dann nach den zwei Jahren in unserer Klasse mit nach wie vor rudimentären Deutschkenntnissen in die Kleinklasse abgeschoben wurde.
Wir hatten Schüler aus verschiedenen Ländern. Doch es gab nur zwei Gruppen. Die Schweizer und die Ausländer. Die Ausländer hatten schlechte Noten und blieben in der Regel unter sich. Egal ob Türke oder Albaner oder (Ex-)Jugoslawe. Alle in einen Topf. Und aus diesem Topf gab es keinen Aufstieg nach oben. Kein einziger Schüler und keine einzige Schülerin hat es in die Sek geschafft. Mit ein bisschen Wohlwollen der Lehrerin hätten zwei sicherlich den Weg in die Sek geschafft, aber das Wohlwollen war nicht da.
Nach dem Krieg in Ex-Jugoslawien gab es weitere Kriege, die ich aber bloss am Rande registriert habe. Die meisten waren irgendwo in Afrika und weit weg. Beim nächsten grossen Ereignis der Zeitgeschichte war ich irgendwo in Ecuador am Strand. Irgendwelche Sprachstudenten konnten nicht heimreisen, weil Flugzeuge ins World Trade Center gekracht seien. Im ersten Moment habe ich mir nichts weiter gedacht. In Agno im Tessin steht auch ein World Trade Center. Ich dachte, dass wohl auch so ein Gebäude in Quito steht. Und da die Landebahn in Quito wirklich mehr oder weniger in der Stadt liegt, dachte ich, dass wohl ein Flugzeug die Landebahn verfehlt hat. Erst am nächsten Tag habe ich eine Zeitung gesehen und realisiert, was eigentlich passiert ist.
In den kommenden Tagen und Wochen sass ich öfters in Internetcafés und habe die neuesten Nachrichten gelesen. Irgendwann sind die Amerikaner in Afghanistan einmarschiert. Das fand ich schlimm. Aber diese diffuse Angst, die ich damals als Zehnjährige beim Einmarsch der USA in den Irak spürte, war nicht da. Als Kind hatte ich mehr Angst und Furcht vor Krieg. Bin ich in der Zwischenzeit abgestumpft? Zu viele Kriege in den Nachrichten gesehen? Zu wenig direkte Betroffenheit?
Vielleicht. Viele Kriege waren weit weg. Es waren viele Bürgerkriege dabei. Wo ich noch irgendwie nachvollziehen konnte, was die Leute zu Krieg bewegt. Doch hier? Was will Putin? Seine Fernsehansprache hat wenig Licht ins Dunkel gebracht. Fühlt er sich betrogen, dass ehemalige Sowietrepubliken sich lieber dem Westen und seinen liberalen Werten zugewendet haben? Dass die baltischen Staaten Schutz vor ihm in der Mitgliedschaft der NATO gesucht und gefunden haben? Dass ihm die Gäste auf seiner Party abhanden gekommen sind?
Während meiner Zeit beim Erweiterungsbeitrag durfte ich Sprachnotizen für Staatsbesuche verfassen. Gewisse Abschnitte waren standardisiert. In einem Abschnitt wurde die Erweiterung der EU als einen wichtigen Beitrag zur Sicherung von Frieden, Stabilität und Prosperität in Europa hervorgehoben. Mit dem Erweiterungsbeitrag zeige sich die Schweiz solidarisch mit diesem Friedensprojekt der europäischen Integration. Ehrlich gesagt habe ich diese Abschnitte jeweils einfach übernommen und mir nicht viele Gedanken drüber gemacht. In meiner Welt herrschte in Europa Frieden, der weder jung noch fragil war. Der zweite Weltkrieg war weit weg und für mich nicht mehr fassbar. Krieg in Europa? Deutschland als Feind? Nein, nicht vorstellbar.
Welche Ignoranz! Diese Annahme, dass der Frieden in Europa unumstösslich sei. Mit dem Fall des eisernen Vorhangs schien es, dass die westlichen liberalen Werte dem kommunistischem Wertebild überlegen sind. Krieg zwischen Ländern, die diese Werte teilen, scheint bis heute in der Tat schwer vorstellbar. Und in meiner eigenen kleinen sozialen Blase gibt es niemanden, der diese Werte nicht teilen würde. Nur irgendwelche Spinner, machtgierige, in der Regel alte Männer denken, dass ein autokratisches System einer Demokratie überlegen sei. Nur dummerweise besitzen solche autokratisch gesinnte Machos überproportional viel Macht und Atomwaffen. Ich bin froh, dass in meinem Gastland zurzeit kein solcher Spinner an der Macht ist. Doch was ist in drei Jahren?
Europa ist aufgewacht. Der Krieg vor der eigenen Haustüre ist nicht mehr zu ignorieren. Nun ist man froh um den grossen Bruder über dem Teich, der bei einem Angriff zur Hilfe eilen würde. Ob der grosse Bruder in drei Jahren auch noch zur Hilfe eilen wird, ist leider nicht mehr gewiss. Folgerichtig werden Militärbudgets nun eiligst aufgestockt.
Dieser Einmarsch der Russen in die Ukraine markiert eine Zäsur in der Geschichte. Anfang Februar hat Yuval Harari in einem lesenswerten Aufsatz dargelegt, weshalb in der Ukraine die Richtung der Menschheitsgeschichte auf dem Spiel steht. In seinem Aufsatz beschreibt er, wie sich die Definition von Frieden in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat. Während in der Geschichte Friede vor allem als zeitliche Abwesenheit von Krieg definiert wurde, hat sich das Verständnis von Frieden nach dem zweiten Weltkrieg zumindest in Europa in “Unplausability of war” gewandelt. Krieg zwischen zwei souveränen Nationen in Europa war schlicht undenkbar. Die Europäische Union hat einen grossen Anteil an dieser Errungenschaft.
Mit dem Einmarsch in die Ukraine tritt Putin diese Errungenschaft mit Füssen. Es gilt nun, diese Errungenschaft zu verteidigen. Der ukrainische Präsident Selenskyj und das ukrainische Volk weisen uns in eindrucksvoller Weise den Weg. Harari ist überzeugt, dass Putin vielleicht in der Lage ist, die Ukraine zu erobern. Aber er wird die Ukraine nicht halten können. Die Ukrainerinnen und Ukrainer werden als Sieger in die Geschichte eingehen. Das ist auch meine Hoffnung. Für unsere Kinder. Für uns alle.
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