Gedanken im Schatten des Nahostkonflikts
- jovankaruoss
- 17. Nov. 2023
- 3 Min. Lesezeit

“Unsere Töchter bitten uns und ihre Grossmutter immer wieder, ausserhalb des Hauses kein Hebräisch zu sprechen.”
Diese Nachricht habe ich vor drei Wochen bei einer Freundin auf Facebook gelesen. Eine ihrer Töchter war eine Freundin von Alija. Die Familie hat lange Zeit in den USA gelebt, bevor sie vor ein paar Jahren nach Israel zurückgekehrt ist. Aus dem Beitrag wird klar, dass die Familie nach der Attacke der Hamas Israel verlassen und in einer europäischen Stadt Zuflucht gesucht hat.
Ich schlucke, setze ein weinendes Emoji unter den Beitrag und schicke der Familie in Gedanken viel Liebe und Zuversicht.
Der Beitrag beschäftigt mich, macht mich betroffen und traurig. Wie unbedeutend doch meine Probleme und Sorgen sind. Ich kann mir nicht vorstellen, was es bedeutet, Angst davor zu haben, auf der Strasse die eigene Muttersprache zu sprechen. Ich habe keine Vorstellung, wie es ist, in ständiger Angst zu leben. Wie es ist, von Raketenalarm geweckt zu werden.
Ich kann mir die Angst, die eigenen Kinder im eigenen Land nicht beschützen zu können, kaum vorstellen.
In den folgenden Tagen überfliege ich die Überschriften in den Nachrichten zum Konflikt. Während in den ersten Tagen nach dem Massaker der Hamas die Sympathien klar auf israelischer Seite waren, zeichnete sich bald ab, dass die Stimmung kippen würde. Allen war klar: Israel lässt diesen Angriff nicht unbeantwortet, wird alles dafür tun, ihre entführten Staatsbürger zu befreien.
Nach den ersten Angriffen Israels auf den Gazastreifen mehrten sich die Solidaritätsbekundungen für Gaza in meinen Social-Media-Feeds.
Die Gräueltaten der Hamas gerieten mit dem israelischen Raketenbeschuss auf den Gazastreifen in den Hintergrund. Nun leiden alle. Ich stehe ratlos da. Höre Podcasts zum Thema, lese intensiver Zeitungen, lese Interviews mit Nahost-Experten. Ich versuche, den Konflikt zu verstehen, versuche, mir ein Bild von der Lage zu verschaffen, mir eine Meinung zu bilden.
Ich erinnere mich an meine letzte Geschichtsprüfung am Gymi.
Es ging um die Nachkriegszeit und den Nahostkonflikt. Nachdem meine Geschichtsnoten in der Regel um eine genügende vier kreisten, hatte ich in dieser Prüfung eine sehr gute Note. “Wenn Jovanka will, dann kann sie es”, so der Kommentar meines Geschichtslehrers neben der Note. Ja, dieses Thema interessierte mich.
Es hatte einen Bezug zur Gegenwart, war nicht verstaubt wie die alten Römer.
Natürlich befasste sich eine Prüfungsfrage mit der Lösung des Konflikts. Und selbstverständlich habe ich dargelegt und erläutert, dass der Konflikt mit einer Zweistaatenlösung beigelegt werden könnte. Volle Punktzahl. Sind schon andere Leute vor und nach mir drauf gekommen.
Doch so einfach ist die Lösung nicht.
Sowohl Palästinenser als auch Israeli empfinden das Land zwischen Mittelmeer und Jordan als ihr Heimatland. Mit der Gründung des Staats Israel im Jahre 1948 ging für die jüdische Diaspora ein Traum in Erfüllung. Für die Palästinenser war es eine Katastrophe. Viele Palästinenser mussten ihre Häuser verlassen, flüchteten nach Jordanien, in den Libanon, in Flüchtlingslager auf der Westbank und im Gazastreifen.
Die Palästinenser sind bis heute auf der Flucht.
Und nun werden sie von Israel aufgefordert, vom Norden in den Süden des Gazastreifens zu flüchten, damit sie nicht Opfer der israelischen Angriffe werden. Doch selbst wenn sie nicht direkt von einer Rakete getroffen werden, so sind sie doch unvorstellbarem Leid ausgesetzt.
Es gibt keine Kriege, in denen nur eine Seite leidet, nur eine Seite Täter ist.
Müsste ich heute die Frage nach einer möglichen Lösung beantworten, so würde meine ehrliche Antwort lauten: “Ich habe keine Ahnung”. Das würde wohl kaum einen Punkt geben. Ich glaube aber, dass es nicht hilfreich für einen Frieden ist, wenn ich mich als Nichtbeteiligte auf eine Seite stelle.
Ich habe keine Facebookfreunde aus dem Gazastreifen.
Hätte ich welche, so würde ich wohl auch bei ihnen ein weinendes Emoji unter ihre Beiträge setzen. Und auch ihnen und ihrer Familie in Gedanken viel Liebe und Zuversicht schicken.
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