Regentropfen in der Dunkelheit: Eine nächtliche Begegnung mit dem Klimawandel
- jovankaruoss
- 1. Aug. 2023
- 4 Min. Lesezeit

Sintflutartiger Regen lässt mich mitten in der Nacht aufwachen. Laut und aggressiv schlagen Regentropfen gegen unser Schlafzimmerfenster. Ein Blick auf den Wecker: 03.17 Uhr.
Es ist die Stunde der Wölfe.
Es ist die Stunde, in der unsere Gedanken trüber sind als sonst. Ich mache mir Sorgen um unseren Planeten, um mein Überleben, um das Überleben unserer Kinder. Die Regentropfen schlagen weiter mit voller Wucht gegen das Fenster. Nun kommen auch Blitz und Donner dazu. Ist das das Ende? Ist das nun die Quittung für unseren Raubbau der letzten 250 Jahre?
Der Regen wird schwächer, das Gewitter zieht weiter, ich schlummere zurück in meinen Schlaf.
Am Morgen zeugen nur noch die nassen Strassen vom nächtlichen Unwetter. Ein kurzer Blick auf das Wetterradar zeigt, dass gegen Nachmittag von Westen her neue Gewitter kommen. Bis dann scheint die Sonne und ich freue mich auf einen Sommertag.
Am Mittag werfe ich einen kurzen Blick auf die Nachrichtenseiten und sehe Bilder und Videos vom Sturm in La-Chaux-de-Fonds.
Das flaue Gefühl von der vergangenen Nacht macht sich wieder in meinem Bauch breit. Was ist los? In Griechenland brennen die Wälder, in Europas’ Süden schwitzen die Menschen, in Mailand fallen faustballgrosse Hagelkörner vom Himmel und in Florida kann man nun bei Badewannenwassertemperaturen im Meer baden.
Tief in meinem Inneren spüre ich, dass das nicht gut ist.
Es erinnert mich an das Gefühl, das ich als Kind hatte, als ich das erste Mal vom Ozonloch gehört habe. Oder vom Waldsterben. Diese beklemmende Angst. Diese diffuse Ahnung, dass das ein Problem ist, das auch Mami und Papi nicht lösen können.
35 Jahre später sind die Wälder nicht gestorben und auch die Ozonschicht hat sich etwas erholt.
War die kindliche Angst von damals unbegründet? Ist meine momentane Angst übertrieben? Sind die Klimakleber allesamt Spinner, die den Teufel an die Wand malen? Sind die Hitzerekorde der letzten Jahre gar nicht so schlimm? War es auf der Erde vor abertausend Millionen Jahren nicht viel wärmer als heute?
Zumindest die Antwort auf die letzte Frage lautet ja.
Doch vor abertausend Millionen Jahren gab es keine Menschen auf der Erde. Weil wir Menschen in diesem Klima schlicht nicht hätten leben können. Gewissen Regionen droht in nicht allzu ferner Zukunft das Gleiche. In Indien sterben Leute, weil sie sich nicht mehr abkühlen können. Im letzten Sommer starben in Europa geschätzt 60’000 Menschen wegen der Hitze.
Es wird zunehmend ungemütlicher auf der Erde.
Aus diesem Grund schwänzte an einem Freitag im August 2018 ein unbekanntes 15-jähriges Mädchen die Schule. Sie setzte sich mit einem Schild vor das schwedische Parlament: “Skolstrejk för Klimatet”, “Schulstreik fürs Klima” stand auf dem Schild. Bald folgten ihr Tausende Jugendliche. Vielerorts leerten sich die Schulen freitags, und die Schüler protestierten friedlich für das Klima.
Mit diesen Protesten haben es die Jugendlichen geschafft, dass die Klimakrise weltweit mehr Aufmerksamkeit bekommen hat.
Das unbekannte Mädchen aus Stockholm wurde bekannt und überquerte im August 2019 den Atlantik mit einem Segelboot. Am UNO Klimagipfel las die mittlerweile 16-jährige Greta Thunberg den Politikern die Leviten, warf ihnen vor, dass sie nicht genug für das Klima tun würden, sie die künftigen Generationen im Stich lassen würden. “Wie könnt ihr es wagen?”, fragte sie vorwurfsvoll.
Vor einem Monat sass die mittlerweile 20-jährige Aktivistin selbst auf der Anklagebank und musste diese Frage beantworten.
Wie konnte sie es wagen, sich der Polizei zu widersetzen und eine Zufahrt zu einem Hafen zu blockieren? Greta Thunberg rechtfertigte ihr Verhalten mit Notwehr:
"Ich glaube, dass wir uns in einer Notlage befinden, die Leben, Gesundheit und Eigentum bedroht. Unzählige Menschen und Gemeinschaften sind sowohl kurzfristig als auch langfristig gefährdet."
Die Richter hatten kein Gehör. Thunberg wurde schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe verurteilt.
Auf wohlwollende Richter hoffen derzeit vier Schweizer Seniorinnen, die nach Strassburg gereist sind und die Klimakrise vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht haben.
Auf der Anklagebank: die Schweiz.
Anklagepunkt: Die Schweiz schützt das Recht auf Leben, Gesundheit und Wohlergehen der älteren Frauen unzureichend.
Die Seniorinnen kämpfen nicht bloss für sich. Sie kämpfen für die kommenden Generationen, für unsere Erde. Dank ihrer Klage muss sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dem Klimaschutz eines Mitgliedstaates befassen und die Frage klären, ob Klimaschutz ein Menschenrecht ist. Der Gerichtshof ist sich der Tragweite dieses Falles bewusst, der Fall kommt vor die grosse Kammer.
17 Richter beurteilen derzeit die Frage, ob die Schweiz die notwendigen administrativen und gesetzgeberischen Massnahmen ergreift, um einen globalen Temperaturanstieg von mehr als 1,5 Grad zu verhindern.
Sollten die Richter zum Schluss kommen, dass die Schweiz das Recht auf Leben, Gesundheit und Wohlergehen der vier Seniorinnen unzureichend schützt, hätte dies weitreichende Konsequenzen. Weit über die Schweizer Grenzen hinaus.
Künftig müssten sich die Gerichte aller 46 Mitgliedstaaten des Europarats an diesem Urteil orientieren.
Die offizielle Schweiz mag vielleicht wenig froh über ihren Platz auf der Anklagebank sein. Doch dieser Platz bietet ihr auch die Chance, sich als engagierte Akteurin im globalen Klimaschutz zu etablieren.
Mit oder ohne Schuldspruch.
Happy Birthday, liebe Schweiz.
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